Freitag, 25. Januar 2008

oh, simone.

"[die melancholie] ist ein zustand intensiver depression, der mit einem gefühl moralischen schmerzes erlebt und durch die verlangsamung und inhibition der psychischen und psychomotorischen funktionen charakterisiert wird. freud hat sie mit dem kummer verglichen. der melancholiker verhält sich, obwohl er niemanden verloren hat, so, als habe er etwas verloren; er beklagt den verlust seines ichs: ich bin nichts, ich erreiche nichts, sagt er. dieser verlust bringt ein quälendes gefühl der entwertung mit sich, konstatiert, neben anderen, minowski, und dadurch wird der patient dazu gebracht, sich auf seine vergangenheit zurückzuziehen. die melancholie, sagt minowski ferner, ist eine "zeit-krankheit". 
die zukunft ist versperrt, der patient hat keinen elan mehr, für ihn
gibt es nur noch die aussicht auf den tod. der gegenwart gegenüber 
ist er ohnmächtig; er hat das gefühl, im leeren raum zu existieren;
er leidet unter tödlicher langweile: "große steppe ohne anfang noch 
ende, in der nichts die monotonie unterbricht", sagte die infantin 
eulalia. der melancholiker ist "mit leere angefüllt". er wird zu stein 
inmitten einer verwüsteten welt, in der ihn nichts mehr interessiert 
oder berührt. er hört zu leben auf. das nichts der gegenwart macht
ihn zum sklaven dessen, was er in der vergangenheit gewesen ist:
diesem geschick fügt er sich. wenn er verängstigt ist, dann, weil er
die last der vergangenheit trägt: er fürchtet die zukunft auf grund
dessen, was er gewesen ist und was er früher getan hat. er ist
unfähig, etwas zu unternehmen, um die konsequenzen zu verhindern.
er ist zur passivität verurteilt."


de beauvoir, simone: das alter [la vieillesse]. deutsche ausgabe: hamburg 1972; s. 425.