Freitag, 28. Dezember 2012

das geöffnete buch im spiegel.

geträumt.
in einem kleinen kinderzimmer. man kommt herein, die rechte seite des zimmers ist aufgeräumt, wohl geordnet. ein 5jähriger junge hat hier gewohnt. er ist gestorben. seine sachen, die erinnerungen an ihn, sind in seinen regalen und schränken untergebracht, angeordet, einsortiert, schön hergerichtet. bereit, jederzeit wieder herausgeholt zu werden, um mit den fingern darüber zu streichen, an ihn zu denken, traurig zu sein.
die mutter bin ich.
die linke hälfte des zimmers gehört einem 15jährigen mädchen. ein bett, ein schreibtisch, ein niedriges regal, ein spiegel an der wand. das bett ungemacht, aufgewühlt, die bettwäsche aufgetürmt und plattgelegen. überall kleidung; auf dem bett, vor dem bett, auf dem schreibtisch, auf dem boden. das chaos einer 15jährigen. auch sie lebt nicht mehr. ich setzt mich auf ihr bett und sehe mich um. auf dem kopfkissen aktuelle kleidungsstücke eines weiteren kleinkindes, das hier wohl wohnen muss; eine strumpfhose und ein shirt, die es wohl hier abgelegt hat, während es sich umzog. mein blick fällt auf das kopfkissen, in der noch die form des schädels meiner tochter zurückgeblieben ist; durch die kleidung des lebenden kleinkindes darauf wirkt es, wirkt sie, irgendwie noch so eingebunden in die lebendigkeit in diesem haus. nicht mehr in dieser welt und noch nicht in jener. und schluchze, sowohl im traum, als auch in echt; ich befinde ich mich nur im halbschlaf und träume trotzdem weiter.

ich schluchze, weil ich hier nichts in ordnung bringen kann, egal, wie sehr ich auch diese hälfte des zimmers sortieren und ordnen würde. ich schluchze, weil ich hier genausowenig etwas konservieren kann, ganz gleich, wie unberührt ich die unordnung meiner teenagertochter lasse. diejenige meiner hirnhälften, die sich nicht auf der traumseite befindet, fragt sich, ob das mädchen erst kürzlich verstarb, und wie viele kinder es hier wohl noch gibt. ich spüre, wie mir warme tränen übers gesicht laufen. auch im traum fange ich an zu weinen, stürze mich in ebendieses kopfkissen, in dem zuletzt meine tochter lag, setze mich wieder auf, besehe mir ihr chaos, das ich auf einmal liebenswürdig finde.
auf der bettkannte sitze sich genau vor dem spiegel an der wand, keine zwei meter davon entfernt. doch der spiegel ist blind, wie diese billige spiegelfolie, in der man nur schwammige farbflächen und keinerlei scharfe umrisse erkennt. in diesem moment in ich dankbar, mir nicht beim flennen zusehen zu müssen. mein blick wandert immer wieder von der einen in die andere zimmerhälfte. aufgeräumt hier, chaotisch dort, und wie unwirklich und beschissen ist es überhaupt, dass ich jetzt schon zwei tote kinder habe.
mehr tränen, lauteres geschluchze. dann erkenne ich in diesem unbrauchbaren spiegel etwas, das eigentlich direkt vor meinen füßen liegen müsste: eine helle farbfläche, vielleicht oval, vielleicht rechteckig. was auch immer sich dort spiegelt, findet sich diesseits des spiegels nicht wieder. es müsste direkt neben meinen füßen auf dem boden liegen, aber da ist nichts. auch nicht unterm bett oder sonstwo. ich gehe näher an den spiegel heran, obwohl ich eigentlich weiß, dass das nichts bringen kann. das spiegelbild dieses weißen flecks wird auch nicht schärfer dadurch. und trotzdem weiß ich plötzlich, was es ist, das ich dort liegen sehe: ein geöffnetes buch. eines, das noch nicht geschrieben ist. das geöffnete buch im spiegel.

[aufgewacht, tränenverklebt.]